Einführung

Die Zahl der Menschen mit Demenz steigt stetig. Wir alle sind neben Angehörige und Begleitende auch herausgefordert uns dieser Entwicklung zu stellen. Der gelebte Blickrichtungswechsel befreit uns von Normen, Strukturen und Prägungen, die wir durch Erziehung und Sozialisation eingeübt haben. Menschen mit Demenz erlangen Kompetenzen zurück, die wir durch Erziehung und Sozialisation verlernen und verdrängen mussten, um den Konventionen gerecht zu werden.
Diese Menschen haben Eigenschaften wie Kinder sie haben, aber sie sind keine Kinder. Sie tragen keine Masken mehr, sind authentisch, gefühlsbetont, spontan und wehren sich gegen Fremdbestimmung. Unsere oft verkümmerte emotionale Seite wird im Umgang mit ihnen belebt. Die Voraussetzungen für den gelebten Blickrichtungswechsel sind ein individuelles, wertfreies Miteinander in Offenheit mit Fantasie, Kreativität und Flexibilität.

Vollständiges Vorwort zum Buch

"Zärtlichkeit, Zuwendung und Sexualität im Pflegealltag"

erhalten von
Prof. Dr. med Jürg Kesselring, FRCP
Chefarzt Neurologie
Rehabilitationszentrum Kliniken Valens
CH 7317 Valens, Schweiz

Blick-Richtungs-Wechsel ist doch eine feinfühlige Übersetzung eines Begriffes, der in der ganzen Europäischen Geistesgeschichte entscheidend war: metanoeïte! „Wendet Euren Sinn um, ändert Euren Sinn!“ (1)
Wegen einer anderen Übersetzung dieses Begriffes mit „Busse tun“ ist er wohl etwas in Misskredit geraten, weil man sich dabei gerne etwa einen Bussenzettel-verteilenden Polizisten vorstellt und diesen fürchtet.

Gemeint ist aber, dass man in einem aktiven Gestaltungsprozess eine neue Sicht auf die gegebenen Dinge finden kann und dadurch die Perspektive, d.h. die Aussichten verbessert. In der Neurorehabilitation, der medizinisch-therapeutischen Disziplin, in der Patientinnen und Patienten nach schweren Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns behandelt werden, finden solche Ansichten praktische Anwendung. Der moderne Ausdruck dafür ist „Neuroplastizität“ (2) – ihm liegt die wissenschaftlich gut abgesicherte Gewissheit zu Grunde, dass sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen im menschlichen Gehirn immer, d.h. bis zum Tode neu bilden. Man rechnet heute damit, dass in einem Erwachsenengehirn etwa 100 Milliarden Nervenzellen vorkommen. Diese haben sich fast alle während der 9-monatigen Schwangerschaft gebildet – wir kommen also mit fast dem ganzen Set von Nervenzellen auf die Welt. Jede dieser Nervenzellen hat etwa 1‘000 – 10‘000 Verbindungen mit anderen solchen Nervenzellen und diese werden immer wieder neu gebildet. Wenn man sie zählen wollte, im Rhythmus von 1 Synapse/Sekunde, so wäre man (frau) etwa 30 Mio Jahre am Zählen…Einen solchen Kosmos tragen wir alle in uns und dürfen ihn nutzen! Aber nur diejenigen Verbindungen bleiben bestehen, die auch benutzt werden: „use it or lose it“. Es ist also schon vom neurobiologischen Wissen her angebracht und empfehlenswert, aktiv sein Leben zu gestalten. Das ist die Grundlage des Lernens (3). Freilich lässt sich dieser Prozess nicht einfach frei gestalten, v.a. entspricht das Lernen nicht einfach einem freien Wünschen. Es braucht Anleitungen dazu. Und hier setzen die Impulse an, welche Brigitta Schröder so feinfühlig und kundig für die besonders anspruchsvollen Lebensbereiche vorlegt und zur praktischen Umsetzung einlädt, die im Umfeld der Demenz vorkommen. Sie sind so wichtig und, wenn sie gelingen, auch vielversprechend und zukunftsträchtig. Ihre Anwendung ermöglicht ein wertvolles Gemeinschaftsgefühl, das wir in unseren unsicheren Zeiten besonders brauchen können (4, 5).

Der Begriff Resilienz stammt eigentlich aus der Physik und bezeichnet elastische Kräfte, zB auch bei Brücken, wie wir das über drei Jahre an der sich entwickelnden Taminabrücke (www.taminabruecke.ch) vor den Toren unserer Klinik (www.kliniken-valens.ch) beobachten konnten. In der Natur zieht die Schwerkraft etwas zum Mittelpunkt der Erde - aber das gilt nur für das Tote. Alles was lebendig ist, entwickelt sich der Schwerkraft entgegen, das macht das Lebendige aus, die Leute stehen auf, die Blumen wachsen nach oben und die Bäume auch (6). Es ist wichtig, dies zu unterscheiden und nicht eine banale Neurologie (oder Psychiatrie) zu betreiben, die immer nur von den hinunterziehenden Kräften lebt, alles nur mit dem alpha privativum bezeichnet: A-phasie, A-lexie, A-taxie etc. und eben auch als De-menz – als ob da gar kein Geist mehr vorhanden wäre. Es ist eigentlich eine unmenschliche oder unlebendige Art die Welt zu betrachten, wenn immer nur vom Toten ausgegangen wird. Wenn eine Brücke gebaut wird, fällt dieser schwere Beton natürlich schon auch nach unten - aber damit etwas gebraucht werden kann, müssen Verstrebungen und Kräfte angesetzt werden, die nach oben ziehen, evtl nur vorübergehend wie bei den Pylonen und Verstrebungen im Bild, bis der Bogen derart geschlossen ist, dass die Kräfte sich anders verteilen und die Stützen nicht mehr nötig sind. Unser Beruf ist es, solche lebendigen Kräfte zu suchen und zu fördern (7, 8, 9).

Es geht darum, wie die aufbauenden Kräfte im Gehirn organisiert sind, um das flexible Gehirn (1) und in der Therapie um die Aktivitäten, durch welche die Neuroplastizität gefördert wird, welche die morphologische Grundlage des Lernens ist (3). Es wird nie eine Tablette geben, mit der man einfach eine Fähigkeit erwirbt und etwas Neues kann, ohne geübt zu haben. Man kann wohl Medikamente einsetzen, um die Lernbedingungen zu verbessern (10), aber inhaltlich kann nicht effektiv etwas erworben werden ohne den Aufwand des Lernens. Ohne Zweifel ist der Schlaf für das Lernen wichtig - „den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ (Psalm 127,1) -, aber zu den Seinen gehören offenbar nur diejenigen, die tagsüber auch etwas gelernt haben. Im Schlaf kann schon verstärkt werden, was tagsüber gelernt worden ist (11). Schlaf fördert Neuroplastizität (12), aber einfach nur Schlafen genügt nicht, um etwas zu lernen.

Wie sollen wir Gott lieben?
Indem wir die Menschen lieben.
Wie sollen wir die Menschen lieben?
Indem wir mit ihnen auf den rechten Weg gehen.
Welches ist der rechte Weg?
Der Weg empor.

Nikos Kazantzakis: Griechische Passion

 

1 Werlen Martin
Wo kämen wir hin? Für eine Kirche, die Umkehr nicht nur predigt, sondern selber lebt
Herder Verlag 2016

2 Kesselring J
Grundlagen des Lernens - das flexible Gehirn (Invited review)
Schweiz Arch Neurol Psychiat 2015; 166 (8): 263 – 268

3 KesselringJ
Die Kunst des Übens – Lektionen aus der Neurologie zu Musik und Sprache
Schweiz Ärztezeitung 2011; 92: 1760- 1764

4 Fuchs Thomas
Das Gehirn – ein Beziehungsorgan Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2008

5 Kesselring J
Die Welt wird wieder flach
Schweiz Ärztezeitung 2016; 97 (8): 818

6 Kesselring J
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz
Seit 150 Jahren weltweit im Humanitären Einsatz
Nervenheilkunde 2016; 35 6: 378-384

7 Kesselring J
Placebo – mir gefällt das Wechselspiel von Gehirn & Geist
Festschrift Dr. Margrit Egnèr Stiftung 2015 Zürich, S. 51-66
Laudatio Hans-Martin Zöllner S. 19-21

8 Kesselring J
Placebo - mir gefällt das Wechselspiel von Gehirn und Geist
Primary and Hospital Care - Allgemeine Innere Medizin 2016; 16 (13): 252 - 254

9 Kesselring Jürg
Spielformen des Bewusstseins –neurologische Perspektiven, S. 98 - 109
In: Mettner Mathias und Joseph Jung (Hrsg)
Das eigene Leben – jemand sein dürfen, statt etwas sein müssen
Verlag Neue Zürcher Zeitung 2015

10 Medizin für Gesunde?
Analysen und Empfehlungen zum Umgang mit Human Enhancement
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2012

11 Stefan Klein
Träume – eine Reise in unsere innere Wirklichkeit
Fischer Taschenbuch 2016

12 Marquet P, Smith C, Stickgold R
Sleep enhancs neuroplasticity
Oxford University Press